25.04

briefe 2

"well liz we come to the end of the road. there were so many things one could cry out but they will fall on deaf ears. […] i leave just as i came to this world with nothing. only my pride in who i was. i'm out."

die letzten zeilen, die willingham seiner brieffreundin geschrieben hat. "wir kommen ans ende der strasse." das leben als strasse, die plötzlich abbricht, ins nichts führt oder in einen abgrund. was geht in dem vor, der sie enden sieht? der die landschaften sieht, in die sie geführt haben mag, wäre sie nicht abgebrochen?

wie verabschiedet man sich von einem menschen in der gewissheit, dass es ein abschied für immer ist? wir alle kennen abschiede, an bahnhöfen und flughäfen, von geliebten menschen, die wir mit grösster wahrscheinlichkeit kaum wiedersehen, von orten, an die wir kaum zurückkehren werden. selten wollen wir uns verabschieden, abschiede sind immer traurig. meistens wissen wir jedoch: wir könnten den geliebten menschen wiedersehen, wenn wir wollten, wir könnten an den ort zurückkehren, wenn die sehnsucht zu gross würde.

ein abschiedsbrief besiegelt einen abschied für immer. einseitig, endgültig, unbarmherzig, ohne die möglichkeit des zwischenrufes: "halt, geh noch nicht." der abschiedsbrief zeichnet das letzte bild von uns. er hält den moment fest, wenn wir durch die flughafentür zum gate gehen oder in den zug einsteigen, und er macht ihn wiederholbar, tausendfach. mit jedem neuen lesen wird der abschied noch einmal vollzogen. doch wieder: keine möglichkeit, zu rufen: "bleib stehen!" der abschiedsbrief spielt uns den abschied vor wie ein videoband, das man kennt. die hoffnung, der film möge anders enden, und die gewissheit, dass es kein anderes ende gibt.

am ende der strasse lässt sich nicht mehr umkehren. "wir", schreibt willingham, "wir sind am ende der strasse angekommen." aus dem wagen aussteigen und zum abgrund gehen, diesen weg muss er alleine machen. die gemeinsame fahrt jedenfalls endet hier, zurück bleiben ein blatt papier, einige ferne erinnerungen und der ewige wunsch, doch einmal: "bitte bleib stehen" zu rufen.

(mf)

23.04.

Briefe 1

Sieben Jahre nach seiner Verhaftung hat eine Frau namens Elizabeth Gilbert Briefkontakt mit Todd Willingham aufgenommen. Diese Brieffreundschaft blieb bis zu Willinghams Tod 2004 bestehen. Einige Briefe sind im Internet frei zugänglich.

Der Brief ist nach dem Tagebuch das wohl persönlichste Medium, das man sich denken kann. Im Brief werden Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte, Ängste etc. einem – und meistens ausschliesslich einem – Menschen mitgeteilt. Der Brief ist für keine breite Öffentlichkeit bestimmt. Was im Brief geschildert wird, ist persönlicher Natur und geht, ausser den Empfänger, niemanden etwas an.

Was wir in Willinghams Briefen über ihn erfahren, was er uns unwillentlich von sich preisgibt, berührt. Wir lesen seine Handschrift, wir wissen, dass diese Gedanken gedacht wurden, dass es den Menschen gab, der sie gedacht hat. Wir erleben – indem wir den Brief zum ersten Mal lesen – den Moment, den der Empfänger (in unserem Fall Elizabeth Gilbert) erlebt hat, als sie denselben Brief zum ersten Mal in den Händen hielt. Die Vergangenheit wird plötzlich Gegenwart. Der Brief ist immer ein Medium, aus dem der Verfasser unmittelbar zu uns SPRICHT. In seinen Briefen spricht Willingham. Das macht diese Briefe so unmittelbar, so berührend.

(mf)

21.04.

"Let me tell you something"

Unglaublich: David Martin war Willinghams Anwalt und es gäbe einiges über ihn zu sagen. Sein Auftritt in diesem Video lässt einen jedoch verstummen:

http://www.youtube.com/watch?v=L5cFKpjRnXE

Wüsste man nicht um die Tragik der ganzen Geschichte und dem Schicksal dahinter, man wähnte sich in einer Komödie (einer ziemlich grotesken, freilich.) Das hier jedoch ist der schwärzeste Zynismus, den man sich denken kann, selbstherrlich und dumm. Und es beschleicht einen die traurige Gewissheit, dass Begriffe wie "Cowboymentalität" leider nicht nur Klischee sind.
(mf)

21.04.

Ein Gedicht aus der Todeszelle, vom 9. Juli 2001.

Who knew that justice could be so blind
The scales rust with the
passing of time
Stripped of heal, my life all lost pride
Everyday my hands are tied.
Defenseless to push away the tide

The hold my head beneath with lies
Drowned in blood of their genocide
It's all gone wrong and the innocent die
While
the guilty laugh on the mountain side.
(mf)

19.04.

Wahlkampf mit dem Tod


Riesenapplaus für den Gouverneur von Texas und Präsidentschaftsanwärter Rick Perry bei einer Wahlkampfveranstaltung im September vergangenen Jahres: "If you come into our State", so der Republikaner, "and you kill one of our children, you kill a police officer, you're involved with another crime and you kill one of our citizens, you face the ultimate justice in the State of Texas, and that is: you'll be executed." (0:40) Darauf erschallt frenetischer Applaus.

Soviel ist klar: Die Diskussion um die Todesstrafe ist eine politische. Solange mit dem Töten von Menschen Wahlkampfstimmen gewonnen werden, liegt es nicht im Interesse der Politiker, die Todesstrafe abzuschaffen. Im Gegenteil. Hinrichtungen generieren Wählerstimmen, also gilt es, das Prinzip "Todesstrafe" hochzuhalten. Drakonische Strafen auf der einen Seite, politischer Erfolg auf der anderen.

Das ist nicht nur menschenverachtend, sondern eine zynische Umkehrung dessen, als was die Todesstrafe propagiert wird. Nicht die Gesellschaft braucht die Strafe, das politische System braucht sie, um sich immer wieder selbst zu legitimieren. "Panem et circenses", lautet ein Ausdruck des römischen Dichters Juvenal, "Brot und Spiele" also, und er bezeichnet den Zustand, wenn die Bürger eines Staates zufrieden sind, solange sie genügend zu essen haben und gut unterhalten sind. Unterhaltung meint freilich das schaurige Spektakel im römischen Zirkus, wo Menschen und Tiere gleichermassen abgeschlachtet werden. Man kommt um den Vergleich nicht herum: Im 21. Jahrhundert wird auch in Texas Politik gemacht, indem die Bürger mit simplen Lebensweisheiten und einem einseitigen Weltbild gefüttert und ihre grössten Ängste mit blutigen – wenn auch nicht öffentlichen – Schauspielen scheinbar vertrieben werden. Gerechtigkeit, Sühne und Schutz der Gesellschaft sind die Schlagworte, mit denen dieses politische Programm angepriesen wird. Der Teufelskreis ist evident: In einer Gesellschaft, die Mord mit Mord vergilt, ist das Töten allgegenwärtig. Die archaische Wucht dieser Tötungsphantasien mag Rachebedürfnisse einzelner zumindest vorübergehend stillen. Doch gleichzeitig schürt sie auch Angst. Wo es Gute und Böse gibt, Täter und Opfer, Mörder und Gemordete, ist die Angst gross, selber vom Bösen heimgesucht zu werden, die eigenen Kinder zu verlieren oder einen geliebten Menschen. Und das wiederum kann nur heissen: Noch mehr und noch drakonischere Strafen.

Da Politik die Ängste der Menschen bekanntlich bestens zu benutzen weiss, erstaunt es nicht, dass einer wie Rick Perry Wahlkampf mit dem Tod macht. Und genau darin liegt die Verlogenheit und der Zynismus dieser Menschen.
(mf)

17.04.

bei all den absurditäten und lächerlichen cowboy-aussagen im willingham-verfahren vergisst man manchmal, dass am ende dieses grotesken prozesses tatsächlich ein mensch hingerichtet wurde. dass einer weltweit wichtigsten staaten auf unserem planet tatsächlich das leben eines einzelnen ausgelöscht hat, dass willingham nie wieder reden, denken, schreiben, zeichnen oder schwachsinn erzählen kann. dass der ganze mensch einfach weg ist. beizeiten wird einem das wieder bewusst, nachdem man den letzten lachkrampf über die absurden befragungstechniken des staatsanwalts oder das hirnrissige plädoyer des anwalts abgeschüttelt hat und man kann nur staunen.
(cr)

17.04.

Gedanken zur Brandursache

Wenn die verschiedenen unabhängigen Expertenberichte zur Brandursache aus jüngerer Vergangenheit Recht haben (wovon auszugehen ist), liegt im Fall Todd Willingham keine Brandstiftung vor. Willingham ist demnach unschuldig verurteilt und hingerichtet worden. Doch die Frage bleibt: Was ist an jenem Morgen des 23. Dezembers 1991 in Willinghams Haus in Corsicana geschehen? Weshalb fing das Haus Feuer? Weshalb ist Todd Willingham nicht rechtzeitig aufgewacht?

Es kann nur spekuliert werden. Glauben wir Willinghams Aussage, so ist er an jenem Morgen um 9.13 aufgewacht, hat den jüngeren Zwillingen die Flasche gegeben und ist, nachdem die zweijährige Tochter Amber nicht mit ihm spielen wollte, wieder zurück ins Bett. Den Ausbruch des Feuers hat er verschlafen. Waren Drogen im Spiel? Warum ist er nicht aufgewacht?

Das sogenannte "Lime-Street-Experiment" – ein berühmt gewordenes Experiment von Feuerexperten, in einem ähnlich gelagerten Fall 1990 die Brandursache zu klären – hat gezeigt: Es dauert nur knapp vier Minuten, bis ein Feuer das so genannte "Flashover"-Stadium erreicht hat und sich explosionsartig ausbreitet. Nach dem "Flashover" ist das ganze Haus ein einziger Feuerball. In Willinghams Fall, seiner Aussage gemäß, ist ein Flashover erst eingetreten, nachdem er das Haus bereits verlassen hat. Es dürften bis dahin also etwa vier Minuten vergangen sein – vom Zeitpunkt des Brandbeginnes. Mehrere Augenblicke lang hat Willingham zuvor im Haus nach seinen Kindern gesucht. Allzu lange kann er also nicht im Feuer geschlafen haben.

(Willinghams Schlafgewohnheiten lassen sich im Übrigen leicht erklären, wenn man bedenkt, dass die beiden einjährigen Zwillinge nachts mehrmals aufgewacht sind und betreut werden mussten. Schreiende Zwillinge in der Nacht, ein junger Vater – da kann man morgens schon sehr müde sein.)

Die Frage bleibt: Wie ist der Brand entstanden? Hier sind nur Hypothesen möglich. Eine davon könnte lauten: Die älteste Tochter, Amber, hat beim Spielen das Feuer verursacht. Weder Willingham noch die Strafverfolger sind je davon ausgegangen. Zumindest finden sich keine Hinweise in den Akten. Einige Indizien legen den Schluss jedoch nahe:

1. Amber war die einzige Person, die zum Zeitpunkt des Brandbeginnes wach war.
2. Amber hat in ihrem Zimmer gespielt. Im selben Zimmer, wo die Zwillinge waren.
3. Willingham hat in diesem Zimmer die meisten Flammen gesehen und ist selber davon ausgegen, dass der Brand hier entstanden sei.
4. Die Kinder hatten eine Plastikküche (TIKES KITCHEN) als Spielzeug. Kann ein Kind nicht auf die Idee kommen, im Plastikbackhofen ein Feuer zu machen oder den Plastikgrill mit Zündhölzern anzustecken?
5. Ambers Ruf "Daddy daddy" hat Willingham aufgeweckt. Seiner Meinung nach wollte sie ihn vor dem Feuer warnen. Warum hat sie nicht schon früher gerufen? Hat sie etwa erst selbst versucht, das Feuer zu löschen? Wollte sie ihn nicht vielmehr zu Hilfe rufen als ihn zu warnen?

Man weiß es natürlich nicht.

Es finden sich jedoch bemerkenswerte Parallelen in einem Fall, der sich jüngst in Aachen, Deutschland, ereignet hat. Hier haben Kinder einen Brand verursacht, in welchem sie zu Tode kamen. Die Eltern, die sich im Haus befanden, haben das Feuer erst bemerkt, als es schon zu spät war.

Man muss nicht auf Drogen sein, um den Beginn eines Brandes zu versäumen. Das "Lime-Street-Experiment" hat gezeigt: Brände fangen harmlos an, im Kleinen, und dann geht plötzlich alles ganz schnell.

Zum Lime
Street-Experiment:

Hausbrand in Aachen:
(mf)